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Phantasm - Ward: Fantasies & Verse Anthems - Toccata

Interview mit Laurence Dreyfus über die CD John Ward: Verse Anthems

Herr Dreyfus, Sie haben mit Ihrem Gamben-Consort Phantasm und dem Magdalen College Choir Oxford unter Leitung von Daniel Hyde eine neue CD mit Verse Anthems und Fantazias von John Ward eingespielt. Was kann man sich unter der Musik auf dieser CD vorstellen, in welches historische und musikalische Ambiente wird man da versetzt?

Wir sprechen über Musik aus dem frühen 17. Jahrhundert in England, einer Zeit, in der die Mode aufgekommen war, Stimmen und Gamben zusammen zu bringen. Und gleichzeitig wurde auch auch das Gamben-Consort immer beliebter und breitete sich immer weiter aus: Hatte man diese Tradition vorher nur an den Königshöfen und den Universitäten gepflogen, so spielten nun auch immer mehr reiche Leute auf dem Lande diese Consortmusik - das wurde zu so einer Art Home-Entertainment-Center... Dass man zu diesem Consort nun auch sang, war ein Aspekt, der es erlaubte, sowohl säkulare Musik - wie Madrigale - einzubeziehen, aber auch ernstere Musik, wie die Verse Anthems, die wir auf dieser CD eingespielt haben. Das sind Stücke mit nicht-liturgische Texten, Psalmen und Andachtslieder.

Die waren aber nicht für den Gottesdienst bestimmt?

Nein, nicht für den Gottesdienst - aber ebenso wenig waren diese Stück ausschließlich für die Verwendung bei Hofe bestimmt. Es ist also eine Art Musik für Kenner, zum Beispiel für reiche Familien, die auf in ihren Anwesen in London oder ihren Landhäusern einen Komponisten oder Musikmeister angestellt hatten, oder die einfach einen Satz Gamben hatten, um mit der Familie zu musizieren. Die dürften sich dann also mit ihren Instrumenten versammelt haben und alle spielten oder sangen aus Stimmbüchern. In größeren Institutionen, oder an den beiden Universitäten in Oxford und Cambridge hatte man dann Chöre, die diese Musik aufführten - oft begleitet von Gambe-spielenden Fellows dieser Colleges. Damit haben wir ein sehr klar abgegrenztes gesellschaftliches Milieu, in dem diese Musik verortet war - die also sowohl in kammermusikalischem, als auch in größerem gesellschaftlichen Rahmen erklang.

Was erwartet die Hörer da hinsichtlich Strukturen und Formen: Ist die Musik beispielsweise homophon oder polyphon?

Das ist samt und sonders absolut reinste Polyphonie. Interessant ist aber, dass es sich um Polyphonie handelt, die beginnt, sich für Durchhörbarkeit [audiability] zu interessieren. Wir haben also das Gamben-Consort, das den Chor begleitet, aber auch einleitet - als würden sie selbst ohne Worte bestimmte Arten von Melodien mit imitativen Themen singen. Dann gibt es Solisten im Chor, die den Text in geradezu barocker Manier einführen, bevor der Chor einsetzt und dann im Wechsel mit den Solisten singt. Das ist eine extrem kunstvoll ausgefeilte Klangwelt, in der die Strukturen sich ständig verschieben: Als würde man die Stimmen in diesem polyphonen Satz orchestrieren. So folgt diese Musik also nicht getreulich dem Ideal reinster Renaissancepolyphonie, in der die Stimmen, die Linien alle durchgängig gleichberechtigt sind, sondern sie spielt eben auch mit diesem Sinn für im Dienste der Musik ständig changierende Klangfarben und Nuancen. Das ist absolut faszinierend zu hören, denn es ist so kurzweilig, diese Wechsel zu hören: Zwei Soprane, zwei Tenöre, dann zwei Bässe, dann wieder der Chor oder die Gamben, alle in ständig wechselnden Kombinationen.

Ist das denn nun Musik, die für Chor geschrieben ist, oder für Solisten - vielleicht sogar für Frauenstimmen?

Das ist durchaus möglich, dass gerade in den Landhäusern auch Frauen diese Musik gesungen haben - aber selbst dann wissen wir von Morley und aus anderen Quellen, dass vor allem die Knaben in den Familien sehr früh im Singen und Notenlesen ausgebildet wurden, und außerdem sangen die Männer häufig im Falsett, also als Countertenöre. Im familiären Umfeld, auch in Andacheten, könnten aber durchaus Frauen beteiligt gewesen sein - während das bei Hofe oder auch an den Universitäten sicher nicht der Fall war. Ich kann mir auch überhaupt nicht vorstellen, warum ein Komponist seine Musik ausdrücklich nicht solistisch aufgeführt hätte haben wollen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass zum Beispiel Richard Nicholson, der exakt in dieser Zeit Chorleiter am Magdalen College Oxford war und selbst diese Art von Musik für Stimmen und Gamben schrieb und natürlich aufführte, das selbstverständlich mit dem Chor tat. Wir wissen, wieviele Knaben und wie viele Männerstimmen damals da gesungen haben, und das waren mehrere pro Stimme. Auch sind in den Noten die Soli klar bezeichnet, und man findet in den Quellen auch das Wort Chorus. Natürlich könnte man nun darüber diskutieren, was mit Chorus gemeint ist, aber ich kann mir keine Szenerie vorstellen, in der Ward die Interpreten angefleht hätte, seine Musik doch bitte nicht mit mehr als einem Sänger pro Stimme aufzuführen... Nein, ob solistisch, oder chorisch: Das war beides möglich und üblich; das ist keine Frage in diesem Genre, und war auch nie ein Streitpunkt, bis ein paar Musikwissenschaftler im 20. Jahrhundert anfingen, sich darüber Gedanken zu machen.

Was wir ganz sicher wissen, ist aber, dass es bei den Gamben immer nur eine pro Stimme war - es gab keine Gamben-Orchester!.

Nun erlebt die englische Musik der Renaissance ja in den letzten Jahren ihrerseits eine Renaissance bei deutschen Kirchenchören - also Amateurchören: Immer mehr Gemeinden veranstalten Evensongs, und auch englischsprachige Psalmen erfreuen sich größter Beliebtheit. Ist diese Musik von Ward denn nun auch ein Repertoire, das für einen solchen Rahmen interessant sein könnte, eventuell sogar begleitet von Amateurgambisten, oder ist sie dafür zu schwer?

Nein, gar nicht, das ginge sehr gut. Interessanterweise sind allerdings einige der Fantazias für Gamben-Consort auf unserer Aufnahme ziemlich anspruchsvoll: Da bin ich mir sicher, dass sie für ausgebildete Musiker gedacht waren. Aber die Stimmen in den Verse-Anthems sind fast alle sehr leicht, sehr lyrisch, und lassen sich wunderbar auch von Amateuren spielen. Das muss auch Teil dieser Tradition gewesen sein, dass die Gambenstimmen auch von nicht-professionellen Musikern gespielt werden konnten, dass da keine virtuosen Passagen enthalten sind. Und sicherlich würden Chorsänger und Hörer diese Musik ob ihrer Vielfältigkeit und ihrer umwerfenden harmonischen Sprache sehr genießen: Das ist einfach hinreißend, wie Ward da den Kadenzen aus dem Weg geht oder sie auch unterbricht, bis man sich endlich nur noch zutiefst nach Auflösung und Tonika sehnt, die dann nach vier weiteren Takten endlich kommt. Und die Textvertonung ist ganz schnörkelos und einfach wunderschön.

Erzählen Sie uns doch eine kleine Anekdote von der Aufnahme!

Oh, eine interessante Anekdote ergab sich daraus, dass wir zwei Tonmeister für diese Aufnahme hatten. Einen für die Gamben-Consort, das war unser gewohnter Producer, Philipp Hobbs, der gleichzeitig ein fantastischer Tonmeister ist, und einen anderen, Adrian Peacock, der sehr erfahren in der Zusammenarbeit mit Chören ist, und vor allem in England auch sehr bekannt dafür. Und wir begannen mit ihm aufzunehme - und waren wirklich so schockiert, wie er die Knaben behandelte, dass wir dauern dachten, wir müssten das Jugendamt verständigen: Keine Pausen, er arbeitete unglaublich intensiv und hart, und jedes Mal, wenn der kleinste Fehler passierte, gab es sofort ein fürchterliches Donnerwetter. Wir saßen da und waren gänzlich geplättet: Kein professioneller Musiker würde sich diese Art der Behandlung gefallen lassen! Doch als wir dann im Chor fragten, ob die Sänger das denn in Ordnung fänden, bekamen wir nur die erstaunte Antwort: Oh, das ist vollkommen normal, so bringt man dem Chor bei, diszipliniert zu arbeiten...

Und das hat funktioniert, muss ich sagen! Ich meine, die jüngsten Sänger sind sieben oder acht Jahre, die Solisten auch erst elf oder zwölf - und die Disziplin, die Konzentration und überhaupt das Niveau des Musizierens war eine absolute Freude. Da gab es immer wieder diese Kammermusik-Momente, wenn wir eine Phrase colla parte sangen und spielten und diesen perfekten Kontakt mit den Sängern - den Knaben und auch den Männerstimmen - herstellen konnten: Das war eine wirklich sehr erfreuliche Erfahrung.

Gab es auch etwas, was Ihnen als Gambisten besonders schwerfiel, bei dieser Aufnahme?

Nein, eigentlich nicht, das war wirklich reinster Genuss. Die Gamben-Stimmen sind so gut geschrieben! Wir haben natürlich unsere eigene Herangehensweise an Klang und Intonation, sind vielleicht ein bisschen fanatisch, was Intonation betrifft, so dass es eigentlich ganz normal ist, dass wir beim Stimmen in so eine Art meditativen Zustand verfallen. Daniel Hyde und sein Chor kennen das auch schon von uns, und das war nie ein Problem.

Was, würden Sie sagen, macht Ihre Einspielung dieser Anthems für Sie besonders - wenn es da etwas gibt?

Nun, die Akustik in der Kapelle des Magdalen College Oxford, in der wir aufgenommen haben, ist eine ganz besondere: Lebendig, aber klar. Und natürlich war es auch ein Stück weit bewegend, das letzte Stück - This is a joyful, happy, holy day - auf der Aufnahme in diesem Ambiente zu spielen und aufzunehmen: Das ist ein Stück für den Prince of Wales, Henry Frederick Stuart, das erklang, als er als Prince of Wales eingesetzt wurde. Und Henry war zu Zeiten Wards Student am Magdalen College in Oxford, da sein Londoner Tutor in Oxford studiert hatte - das war so eine Kollateral-Entdeckung, die ich machte, als ich für diese Aufnahme recherchierte. Der König hatte Henry als seinen ältesten Sohn damals höchstpersönlich nach Oxford gebracht, zu welcher Gelegenheit das College übrigens extra für teures Geld eine höchst schnökelige Empore in der Halle bauen ließ und deshalb beinahe bankrott ging.

Auf dem Cover der CD haben wir dann auch das Portrait des Prinzen Henry abgebildet, das in der Halle von Magdalen College hängt. Und dieser Prinz war wirklich eine interessante Persönlichkeit in der englischen Geschichte: Er versprach ein in künstlerischen Hinsichten Goldenes Zeitalter, brach mit seinem Vater, wollte auf der Universität studieren - und spielte Gambe! Leider starb er sehr jung, mit nur 18 Jahren, und man kann heute nur darüber spekulieren, dass die englische Geschichte sich ganz anders entwickelt hätte, wenn er auf den Thron gekommen wäre, statt seines jüngeren Bruders Charles I. - der dann geköpft wurde.

Ein anderes ganz besonderes Stück war auch die vierstimmige Fantazia 6 von Ward: Wir hatten schon einmal für unser Label Linn die fünf- und sechsstimmigen Consorts von Ward aufgenommen,  und so ist diese Fantazia nun eine Art Ergänzung. Aber vor allem handelt es sich dabei um das tatsächlich einzige Stück Gambenmusik, das im Detail in einer Quelle aus dem 17. Jahrhundert erwähnt und beschrieben ist. [Es ist nur drei Minuten lang, aber es wird in einem Brief eines Landadeligen namens Darren North ganz wunderbar beschrieben, als „brisk, lusty, yet ... that sturred the blood and raises the spirits, and satisfies the quickness of heart and hand".] Und außerdem ist diese Fantazia vielleicht das experimentellste, modernste vierstimmige Stück dieser Zeit überhaupt, und es hat uns sehr viel Spaß gemacht, das nun endlich auch aufzunehmen.

Toccata
01 September 2014