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Gothic Voices - Mary Star Of The Sea - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Stimmen von heute in mystischer Klarheit

Wenn Honig vom Himmel herabfließt: Das Mittelalter-Ensemble „Gothic Voices" kombiniert Altes und Modernes

Es kann passieren, dass sich Leute mit weiß geschminkten Gesichtern und schwarzen Kleidern in ihre Konzerte verirren, Anhänger eines sinistren „gothicstyle". Der Tenorist Steven Harrold lacht: ,,Ich fürchte, die haben etwas ganzanderes erwartet." Das „gothic" im Namen der Gruppe „Gothic Voices" stehtfür Hohes, Helles und Lichtes, ähnlich gotischer Architektur.

Die vier Briten - drei Männer und eine Frau-singen seit über zwanzig Jahrenzusammen geistliche und weltliche Werke des zwölften bis sechzehnten Jahrhunderts. Begonnen hat das legendäre Ensemble 1981, damals noch in anderer Besetzung, mit Gesängen der Hildegard von Bingen (A Feather on the Breath of God"). Einen strengen, vibratolosen Stil pflegten „Gothic Voices" seinerzeit; nun ist er milder geworden, ohne jedoch an Klarheit einzubüßen. Sie ist es vor allem, die einen beim Hören durchdringt.

In der Begegnung sind die Sänger offen und unprätentiös. ,,Die Stimmen derVergangenheit schwingen mit", sagt Julian Podger, neben Harrold der zweite Tenor des Ensembles. ,,Aber wir sind keine mittelalterlichen Sänger und versuchen nicht, etwas wieder zu erschaffen, was einmal war." Die aktuelle Einspielung ,,Mary Star of the Sea" bringt Mariendichtungen, die schier überfließen vor zärtlicher Verehrung für die Mutter Jesu. Sie ist der Stern, der Brunnen, die Lilie, die Rose, die Tür zum Himmel, die Vene (!) der Vergebung, ja die Biene, die allen Honig gibt, ,,apes illa mel dat omnibus". Honig ist es auch, der vom Himmel herabfließt in die jungfräuliche Kammer, ein neues, duftendes Öl, das sie zur Gebärenden macht - als explizit erotische Verse versteht Julian Podger den Sologesang „Tronus regis" , der dann züchtig mit „Ave maris stella" endet.

Erstmals präsentieren „Gothic Voices" auf einer CD auch Zeitgenössisches, im ersten Teil etwa Umspielungen des Namens „Maria" von Joanne Metcalf, einer von geistlichen Topoi inspirierten Komponistin. Metcalfs Dante-Gesang „Il nome del bei fior" (1998) markiert in seiner italienisch fließenden Sanglichkeit einen ersten Höhepunkt.

Ein zweiter Teil widmet sich Maria als Mutter. Ein scheinbar harmloses Wiegenlied, ,,Dou way, Robyn, the child wile weepe" (Verschwinde, Robin, das Kind wird weinen), kreist suggestiv in einer Art Endlosschleife. Dazu ertönen wie aus einem Nebenzimmer lateinische Verse, ,,Sancta mater gratiae". Sängerisch äußerst kunstvoll, wirken sie ein wenig wie l'art pour l'art, oftmals gegen den Wortsinn betont. Beide Linien, die schlichte und die virtuose, verschmelzen wundersam in der Hinwendung zu dem einen Kind und zu allenMenschenkindern. Der Name Robyn steht vielleicht für „robin", das Rotkehlchen, das der Legende nach der Kreuzigung beiwohnte. Stephen Charlesworth. trägt das Stück mit seinem ruhigen, gleichmäßigen, wie unerschütterlichen Gesang; Steven Harrolds warmer, doch so klarer Tenor schwingt im Parlando locker darüber. Das letzte Wort hat das Wiegenlied.

An den Abgrund des Todes und der Hölle führt uns der Dialog „Stond wel,Moder, under rode" (Steh getrost, Mutter, unter dem Kreuz), eine Paraphrase der Stabat-mater-Situation in 22 Strophen, wieder in mittelenglischer Sprache. Der Gekreuzigte spricht Maria Mut zu und beharrt auf dem Sinn seines Sterbens; Maria, selbst gemartert durch seine Marter, lehnt sich gegen diesen Sinn auf. Es ist ein Wechselgesang zwischen einer Frauen-und einer Männerstimme, musikalisch aufeinander bezogene Phrasen von herber Expressivität, ,,almost unbearable moving", ,,fast unerträglich bewegend" ,wie Catherine King bekennt. Die emotionale Dichte greift über auf das Werk, das der 1970 geborene Andrew Smith für „Gothic Voices" auf die gleichen mittelalterlichen Verse komponiert hat, doch nun für alle vier Stimmen.Durch die konsequente Mehrstimmigkeit wirkt das moderne „Stond wel,Moder, under rode" abstrakter als der ursprüngliche Dialog, sozusagen chormäßig. Es darf als Reverenz an die mittelalterliche Tradition verstanden werden und zugleich an dieses herausragende Ensemble. Wie das Drama der Kreuzigung hier von innen her durchleuchtet wird, im Zusammenklang der klar und transparent geführten Stimmen, ist ergreifend; darin liegt auch ein mystischer Kern.    

Frankfurter Allgemeine Zeitung
10 October 2016