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Peter Harvey - Winterreise - Rondo Magazin (German)

Zunächst fällt die schiere Schönheit dieser Baritonstimme auf. Dann überrascht die nahezu perfekte Diktion: So selbstverständlich und mühelos hörten wir das Deutsche aus dem Mund eines britischen Sängers vielleicht zuletzt von Janet Baker. Danach geraten von Lied zu Lied die Details dieser Interpretation in den Blick. In der finalen Dur-Strophe des ersten Liedes erhalten "wär' schad" und "sacht, sacht" jeweils ganz organisch sanfte Akzente, weil Peter Harvey die Phrasierung seiner Melodielinie an diesen Stellen perfekt mit dem chromatischen Vorhalt der Klavierbegleitung abstimmt. In der ersten Phrase des zweiten Liedes hält Harvey die Spannung über den Spitzenton "...schönen..." hinaus gerade deutlich genug, um das nachfolgende "Liebchen" noch ebenso sacht wie nachhaltig ins Bewusstsein des Hörers zu verpflanzen. In der letzten, quasi in die feindliche Winterlandschaft hineingerufenen Phrase "des ganzen Winters Eis!" im dritten Lied erblasst die sonst allgegenwärtige Wärme in Harveys Timbre plötzlich zu schneidender Kälte, ohne dass der Sänger darum auch nur im Mindesten ein Gehabe machen würde: Kein interpretatorischer Mit-dem-Finger-draufzeigen-Effekt, sondern technisch nur eine Nuance, die aber ganz aus dem Inneren, unmittelbar aus dem Empfinden kommt und deswegen eine so stupende Wirkung entfaltet. Und im vierten Lied lassen uns die beiden Künstler die Entwicklung von hektischer Unruhe hin zu panischer Verzweiflung und nackter Angst durch eine sorgsam abgestufte Dynamik und ein permanent changierendes Klangfarbenspektrum so hautnah miterleben, dass wir spätestens an diesem Punkt restlos überzeugt sein müssen von dieser fabelhaften Neueinspielung der "Winterreise".

Wer beim Lesen von Peter Harveys eigenem Beihefttext zur Kenntnis nimmt, wie minutiös er sich mit den Textquellen auseinandergesetzt hat, der wundert sich auch nicht mehr, dass es ihm gelungen ist, seinen Akzent mit linguistischer Akribie zu minimieren. Und wer Harvey als Oratoriensänger kennt, der weiß längst, dass er stets aus der verschwenderischen Fülle des vokalen Wohlklangs heraus agieren kann. Auf dieser Basis ruft er in Erinnerung, dass Müllers und Schuberts Winterreisender ein junger Intellektueller ist, der am Beginn seines Irrweges ins Nichts im Vollbesitz seiner körperlichen und emotionalen Kräfte ist. Zuerst ist er nur verletzt, dann verzweifelt, später sarkastisch und ätzend zynisch. Dramatisch und zutiefst bewegend ist aber eben diese Entwicklung, bei der ein Einsamer und Hoffnungsloser seine volle, leidenschaftliche Jugendblüte sehenden Auges der brutalen Zerstörung anheimgibt. Dies lässt uns Peter Harvey in seiner großartigen Version der "Winterreise" so fühlen, wie es kaum ein anderer Interpret dieses Zyklus bisher vermocht hat. Und der erfahrene Begleiter Gary Cooper ist ihm dabei am Hammerflügel ein kongenialer Partner.
Rondo Magazin
18 December 2010